Das „Zügel-Syndrom“
Die meisten Reiter lernen in den ersten Reitstunden, sobald sie die Longe hinter sich gelassen haben, dass man mit Hilfe der Zügel bremsen und lenken kann. Für die Pferde ist das fatal, denn es bedeutet, dass bereits junge Reiter mit Druck und Kraft auf das Maul wirken.
Umso schöner ist es zu sehen, dass in meinen Reitstunden immer mehr Reiter die Zügel einfach loslassen. Auf einem eingezäunten Reitplatz oder in der Halle ist es trotz geringer „Verlustgefahr“ des Pferdes eine große Überwindung. Denn viele Reiter sehen in den Zügeln ein Kontrollinstrument über das Pferd. Doch seien wir ehrlich: ich kann mit zwei Gurten, die auf ein Metallstück im Maul einwirken, kein Pferd kontrollieren. Die mehrere hundert Kilo schweren Tiere beißen im schlimmsten Fall einfach fest auf das Gebiss und entziehen sich so jeder Zügeleinwirkung. Trotzdem ist es die schwierigste Übung für viele Reiter, die Zügel loszulassen und sich vollständig über Gewicht und Schenkeleinwirkung mit dem Pferd zu verständigen.
Ich bin immer wieder erstaunt und freue mich zu sehen, wie das Verhalten des Pferdes sich ändert. Am langen Zügel ohne Druck im Maul werden die meisten Pferde ruhiger, laufen gelassen in Schritt, Trab oder Gallopp durch die Bahn. Das Lenken muss erst neu gelernt werden, denn auch die Pferde haben gelernt, dass sie „nur“ auf die Bewegungsrichtung des Zügels reagieren müssen. Viele Pferde sind erst mal völlig erstaunt, wenn die Zügelbewegung wegfällt und Schenkel- und Gewichtshilfen die Richtung anzugeben versuchen. Daher ist es im ersten Moment egal, wo das Pferd hinläuft: hier muss erst von Pferd und Reiter neu erlernt werden, wie die Richtung bestimmt wird. Es gibt sogar Pferde, die beim Wegfall der Zügel und Umstellung z.B. auf den Halsring sehr verunsichert reagieren. Gut ist, wenn dann ein Mensch am Boden steht oder ein Pferdekumpel vorläuft, an dem sich das Pferd orientieren kann.
Wer ausprobieren möchte, wie sein Pferd beim Reiten ohne Zügel reagiert, sollte das nie allein tun. Es ist wichtig, auf die Reaktion des Pferdes zu achten und sofort zu reagieren. Wird es unsicher, ist eine nur kurze Einheit wertvoller als langes Üben. Sind andere Reiter mit in der Bahn muss abgesprochen werden, wer ausweicht. Am besten werden die ersten Übungseinheiten mit einem Reitlehrer oder Trainer absolviert, um mögliche Risiken einzudämmen.
Ich wurde seit jeher von Reitlehrern kritisiert, wegen meiner „Fahrleinen“ 😉 Klar, es gibt auch Übungen und Momente, wo eine leichte Anlehnung sinnvoll ist um das Pferd zu unterstützen – aber diese mega kurz gefassten Zügel sind mir ein Graus. Da blockiert bei mir alles und ich kann z.B. keinen Trabtritt mehr aussitzen 😉 So sind die Zügel bei mir meist lang, aber nicht lose 😀